Lohnt sich Frankreich noch? Diese Frage stellen sich viele Leiter mittelständischer Unternehmen, wenn sie sich international entwickeln wollen. Seit mehreren Jahren ergeht sich die deutsche Presse in Klagen über die Schwächen Frankreichs: Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, Rückgang des Marktanteils im weltweiten Handel, hohe und weiter steigende Arbeitslosigkeit, Haushaltsdefizit und Rekordverschuldung. Frankreich ist der kranke Mann Europas, hört man immer wieder …
Daran ist natürlich etwas Wahres. Frankreich, das sich momentan in einem Reformprozess befindet, hat stark an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Ist das Grund genug, einen Markt von 65 Millionen Konsumenten in direkter Nachbarschaft zu Deutschland zu vernachlässigen? Deutschland, das vor ein paar Jahren noch selbst der „kranke Mann Europas“ war, hat Mitte der 2000er-Jahre ein Reformprogramm eingeleitet, mit dem es heute im Außenhandel wieder sehr leistungsfähig ist. Damals war Frankreich das leistungsstärkere Land. Aber vielleicht ist Frankreich in zehn Jahren wieder genauso dynamisch wie Deutschland. Trotz der aktuellen Schwierigkeiten sind sich Experten und Unternehmen einig: Frankreich ist für deutsche Firmen weiterhin ein Muss.
Nach Angaben des Deutschen Statistischen Bundesamts (Destatis) belief sich der Handel zwischen Deutschland und Frankreich im Jahr 2014 auf 169,4 Milliarden Euro (Import und Export, +3,2 % gegenüber dem Vorjahr); somit war Frankreich wieder der wichtigste Handelspartner Deutschlands. Deutschland führte 2014 Güter im Wert von 102 Milliarden Euro nach Frankreich aus, also 2,1 % mehr als 2013. Die Importe aus Frankreich betrugen 67,5 Milliarden Euro, ein Anstieg von 5,5 % gegenüber dem Vorjahr. Im Jahr 2014 reduzierte Deutschland seinen Handelsbilanzüberschuss zu Frankreich um 6,1 %; er lag aber immer noch bei beachtlichen 34 Milliarden Euro.
Frankreich ist der größte Kunde und der drittgrößte Lieferant Deutschlands und verdrängt somit Wirtschaftspartner wie die Niederlande (161,3 Milliarden Euro Handelsvolumen) und China (154 Milliarden Euro). Die Wirtschaftsbeziehungen haben sich in vielen Sektoren intensiviert und zu einem branchenübergreifenden Handel in den Bereichen Luftfahrt, Chemie, Automobilsektor, Maschinenbau, Elektronik und Lebensmittelindustrie geführt.
Frankreich hat momentan 65 Millionen Einwohner. Dank seiner Bevölkerungsdynamik – die Geburtenrate beträgt 2,0 Kinder pro Frau gegenüber 1,4 in Deutschland – wird die Einwohnerzahl in 20 Jahren auf 68,5 Millionen ansteigen; damit wird die Bevölkerungsgröße des Landes der deutschen entsprechen. Die Kaufkraft der Franzosen liegt über dem europäischen Durchschnitt und nur 10 % unter der deutschen.
Deutschland ist heute nach den USA der zweitgrößte ausländische Investor in Frankreich. Laut Banque de France investierte Deutschland im Jahr 2013 1,8 Milliarden Euro in Frankreich; dies entspricht 15 % der gesamten Auslandsinvestitionen in Frankreich. Nach dem EY-Barometer 2014 zur Investorenstimmung “schauen die deutschen Unternehmen in Frankreich nach vorn und sind hinsichtlich der Entwicklung des wirtschaftlichen Umfelds in Frankreich optimistischer.“
Die großen deutschen Konzerne verfügen über eine starke Präsenz. Siemens z. B. hat 8 Produktionsstandorte in Frankreich. BASF hat 8 Tochtergesellschaften, und 14 Produktionsstandorte. Mercedes-Benz hat in Frankreich 3.000 Beschäftigte und drei Werke: in den Départements Meuse, Moselle und Bas-Rhin. Die Allianz übernahm 1999 den französischen Versicherer AGF und beschäftigt 11.800 Mitarbeiter im Land. Insgesamt unterhalten die deutschen Unternehmen heute 3.200 Tochtergesellschaften in Frankreich.
Frankreich ist in den Bereichen Luftfahrt, Bahn- und Energietechnik im Export außergewöhnlich leistungsfähig. Auch in Zukunftsbranchen wie Mikro- und Nanotechnologien, Medizintechnik, Pharma, Biotechnologie, Optik, Photonik, Elektromobilität, erneuerbare Energien und Umweltenergien hat das Land einen Vorsprung.
Die Kreativität, eine im französischen Wirtschaftssystem sehr geschätzte Qualität, sorgt zudem für günstige Rahmenbedingungen für Startups, die neue Ideen umsetzen wollen. Die derzeit dynamischsten Unternehmen sind auf Digitale Wirtschaft, Software, digitale Dienstleistungen und damit verbundene Bereiche spezialisiert. So wurde Pretty Simple, ein in Paris ansässiges französisches Unternehmen, für Criminal Case mit dem Facebook-Spielepreis des Jahres 2013 ausgezeichnet. Criteo, ein Spezialist für Werbung im Internet, hat seit seiner Gründung 2005 in 46 Ländern eine Präsenz aufgebaut. Auch BlablaCar und Deezer stehen für internationale Erfolge des französischen Internets. Das staatlich geförderte French Tech Hub fand bei der letzten High-Tech-Messe in Las Vegas 2015 große Beachtung.
Befragt man ausländische Unternehmen in Frankreich, wird die Qualität der Infrastruktur als wichtigster Vorteil genannt. Das Autobahnnetz und die Hochgeschwindigkeitsbahnstrecken verbinden die verschiedenen Städte des Landesgebiets in kürzester Zeit. Der französische TGV ist z. B. viel schneller als der deutsche ICE: Die Fahrt von Paris nach Montpellier, immerhin eine Entfernung von 600 km Luftlinie, dauert nur dreieinhalb Stunden!
Frankreich steht auch bei der Ausrüstung für Digitaldatenübertagung an der Spitze: Dank des „Plan Fibre“ werden in den kommenden Jahren 20 Milliarden Euro in ein sehr schnelles Breitbandnetz investiert, mit dem bis 2022 das gesamte Staatsgebiet ausgerüstet sein wird: Ein nicht zu vernachlässigender Vorteil gegenüber Deutschland, das laut einer Studie des Beratungsunternehmens McKinsey vom März 2015 bei der Erschließung mit Hochleistungsnetzen Nachholbedarf hat. Laut Destatis verfügte 2014 nur eines von vier deutschen Unternehmen über eine sehr schnelle Internetverbindung, also einen Breitband-Internetzugang mit einer Leistung von mindestens 30 Megabit pro Sekunde. Und ein weiteres großes Plus: Die Energiepreise sind 30 % niedriger als in Deutschland.
Die deutschen Unternehmen sind sich darin einig, dass französische Ingenieure hervorragend ausgebildet sind. Die Hochschulbildung in Frankreich gehört zu den besten weltweit. Seit 2011 wurden mit massiver staatlicher Unterstützung 71 Wettbewerbsfähigkeitspole („pôles de compétitivité“), sog. „Cluster“, geschaffen, um Forschung und Entwicklung im gesamten französischen Staatsgebiet zu fördern. Ausländische Firmen mit Niederlassung in Frankreich können einen Crédit Impôt Recherche erhalten, eine Steuergutschrift für Forschungszwecke.
Nach den jüngsten Zahlen der Entwicklungsagentur Business France sind die deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen nach wie vor sehr dynamisch. Im Jahr 2014 führte Deutschland 141 Investitionsprojekte in Frankreich durch, die zur Schaffung oder Sicherung von mehr als 3.000 Arbeitsplätzen führten. Von den 16 Bundesländern investierten 15, wobei Baden-Württemberg mit 31 Projekten an der Spitze lag, dicht gefolgt von Nordrhein-Westfalen. Bayern führte 20 Projekte durch.
Die meisten Investitionen flossen in die Region Île-de-France, wo 27 Projekte realisiert wurden. Midi Pyrénées schnitt 2014 mit 20 Projekten außerordentlich gut ab und brachte somit die bisher üblichen Verhältnisse mit dem Spitzentrio Île-de-France, Elsass und Rhône-Alpes ins Wanken.
Die meisten Investitionen in Frankreich entfallen auf den Mittelstand. 40 % der Projekte im Jahr 2014 wurden von mittelständischen Unternehmen durchgeführt. Die großen Konzerne tätigten 37 % der Investitionen, die kleinen und mittleren Unternehmen 22 %. Die Investitionen bezogen sich vor allem auf den Ausbau bereits bestehender Niederlassungen (57 %); an zweiter Stelle stand die Gründung von Tochtergesellschaften (32 % der Projekte).
Dies bedeutet: Die deutschen Unternehmen mit Präsenz in Frankreich sehen die Zeichen der Erholung und rüsten sich für die Zukunft. Mit den investierten Mitteln werden überwiegend Produktionsstandorte errichtet oder erweitert. 21 % der Projekte von 2014 betrafen Erstniederlassungen.
Die Deutschen investieren vor allem in die folgenden Sektoren:
Claas Tractor und HET, der deutsche Mittelstand in Frankreich
Claas Tractor , der führende europäische Hersteller von Landmaschinen (Traktoren, Mähdrescher), gegründet im Jahr 1913, beschloss, seine Forschungs- und Entwicklungskapazitäten in Frankreich zu erweitern. Im letzten Jahr schuf er 51 neue Arbeitsplätze in den Regionen Île-de-France und Pays de la Loire.
Frankreich ist für Claas nach Deutschland der zweitwichtigste Markt. Der Konzern erzielte 2014 in Frankreich einen Umsatz von 793 Millionen Euro. Heute beschäftigt das Unternehmen in Frankreich 3.500 Mitarbeiter (d. h. ein Drittel seiner Gesamtbelegschaft), die auf drei Produktionsstandorte, zwei kaufmännische Niederlassungen und drei Ausbildungszentren verteilt sind.
Lothar Kriszun, Sprecher der CLAAS Konzernleitung.
HET. Der Chemiekonzern HET Elastomertechnik, einer der führenden Hersteller von elastischen Produkten aus Recyclingmaterial, eröffnete 2014 eine neue Tochtergesellschaft an einem sanierten früheren Total-Standort in Dieuze (Lothringen), an dem 30 Mitarbeiter arbeiten werden.
Das ist weitgehend richtig und eine der größten Schwächen des Standorts Frankreich. Frankreich ist einer der teuersten Standorte der Welt. Die Gehälter sind hoch, und die Sozialabgaben wirken sich in hohem Maße auf die Wettbewerbsfähigkeit aus. Dabei gehen die Reformen auf diesem Gebiet nur schleppend voran, aber immerhin wurden sie eingeleitet.
Allerdings sind einige Punkte zu relativieren. Zwar sind Streiks und soziale Konflikte an der Tagesordnung, aber die Gewerkschaften sind nicht mehr so aggressiv wie einst und mussten viel Kritik einstecken, denn sie wurden für den Rückgang der Wettbewerbsfähigkeit des Landes verantwortlich gemacht. Die Lohnkosten sind hoch, aber die Arbeitskräfte sind gut ausgebildet, insbesondere im kaufmännischen Bereich, und sehr produktiv. Dennoch wird ein französischer Ingenieur in der Regel schlechter bezahlt als ein deutscher. Außerdem gibt es für Unternehmen zahlreiche staatlich geförderte Verträge, mit denen sie Arbeitskräfte für weniger Geld einstellen können. Der Status der Führungskräfte („statut des cadres“) ist eine französische Besonderheit, die relativ flexible Arbeitszeiten ermöglicht.
Cécile Boutelet ist freiberufliche Journalistin. Sie ist eine Spezialistin für die deutsche Wirtschaft und Unternehmen, insbesondere als Korrespondentin der Zeitung Le Monde seit 2010. Als sie gebeten wurde, diesen Guide zu schreiben, fand sie es sehr interessant: Sie selbst widmete ihre ersten Jahre auf der anderen Seite des Rheins dem Aufbau und der Entwicklung eines kleinen Unternehmens.
Illustrationen : Katharina Bußhoff. www.katharinabusshoff.de
Diese weit verbreitete Annahme ist auf die 35-Stunden-Woche zurückzuführen, die im Jahr 2000 gesetzlich eingeführt wurde und eine Grundarbeitszeit von 35 Wochenstunden vorsieht. Allerdings erfuhr diese Gesetzgebung eine Reihe von Änderungen, sodass diese gesetzliche Arbeitszeit stark relativiert wurde. Die Franzosen, vor allem in Paris, arbeiten viel und wundern sich oft, wenn ihre deutschen Partner am Freitagnachmittag nicht mehr erreichbar sind! Aber die Franzosen arbeiten nicht nur viel, sie sind auch sehr produktiv: Frankreich weist die zweithöchste Arbeitsproduktivität in Europa auf. In den Merkblättern im Anhang ist alles Wissenswerte über das französische Arbeitsrecht zusammengefasst.
Hier handelt es sich um einen grundlegenden kulturellen Unterschied zwischen den Franzosen und den Deutschen. Die Deutschen klagen oft, die Franzosen würden ihre Verpflichtungen nicht einhalten, ihre Rechnungen zu spät bezahlen und kaum auf Details achten. Die Franzosen halten dem entgegen, die Deutschen seien unflexibel und würden zuweilen das Wesentliche aus den Augen verlieren. Ihr Argument: Sie können ebenso leistungsfähige Flugzeuge und Maschinen bauen wie die Deutschen. Die Erklärung für diese unterschiedlichen Sichtweisen sind kulturelle Unterschiede, die man kennen muss: Die Franzosen sind personenorientiert, haben einen Kommunikationsstil, bei dem der Kontext eine große Rolle spielt, und ein so genanntes polychrones Zeitverständnis. Sie gehen anders an Geschäftsbeziehungen heran und haben ein anderes Verständnis von Fristen als die Deutschen. In Teil 4 werden wir erläutern, wie man mit diesen Unterschieden am besten umgeht.
Das trifft immer weniger zu. Frankreich ist heute ein Land, das ebenso auf den globalisierten Markt ausgerichtet ist wie Deutschland. Was das Fremdsprachen-Klischee angeht, sind viele deutsche Manager, deren Unternehmen in Frankreich präsent ist, überrascht, dass die meisten ihrer Ansprechpartner sehr gut Englisch sprechen. Das Elsass ist ein traditionelles Investitionsziel für deutsche Unternehmen, da dort viele Deutschsprachige leben. Der jüngeren Generation, die in der Regel längere Zeit im Ausland verbracht hat, fällt es leichter als den Älteren, Englisch zu sprechen und Fremdsprachen zu lernen. Im Übrigen hat die Attraktivität von Berlin das Image der deutschen Sprache enorm verbessert. Trotz der enttäuschenden Zahlen des Bildungsministeriums zum Erlernen des Deutschen sind im letzten Jahr fast 17.000 Franzosen nach Deutschland gezogen. Darunter sind viele junge Menschen, die ihr Glück in Deutschland versuchen wollen. Vielleicht findet sich unter ihnen auch ein Kandidat für Ihr Unternehmen.
Falsch. Von dieser Vorstellung sollten Sie sich ganz schnell verabschieden. Die aus einem föderalen Staat kommenden deutschen Unternehmen haben die Vorstellung, Frankreich sei ein Land, in dem jede Region ihren wirtschaftlichen Schwerpunkt habe, und fragen sich dann, wo sie sich niederlassen sollen. Tatsächlich ist Frankreich sehr stark vom Zentralismus geprägt, der die territoriale Gliederung seit dem 10. Jahrhundert prägt! Praktisch bedeutet dies, dass Paris, das acht Jahrhunderte lang Sitz des Königshofs war, seit dem Mittelalter die Elite des Landes anzieht: Wissenschaftler, Intellektuelle und Künstler. Die Französische Revolution und danach Napoleon haben die modernen Strukturen gestaltet und diese Organisation weiter verstärkt. Heute haben die meisten großen Konzerne ihre Unternehmenszentrale in Paris: Dort werden die Entscheidungen getroffen. Die Unternehmen profitieren von der Nähe zur Regierung und den Ministerien. In Paris befinden sich auch die Grandes écoles, die Elitehochschulen, die die Führungskräfte für die Wirtschaft und den öffentlichen Dienst hervorbringen. Daher ist die Île-de-France die Region Frankreichs, in der sich die meisten ausländischen Unternehmen niederlassen. Allerdings haben einige Regionen Schwerpunkte, wie wir im folgenden Kapitel betrachten werden.
In Frankreich begann der Einigungsprozess im 12. Jahrhundert, also sehr viel früher als in Deutschland. Man geht davon aus, dass Frankreich unter der Herrschaft Phillips des Schönen die Weichen für den modernen zentralistischen Staat gestellt hat. Im Gegensatz zum römisch-deutschen Reich, in dem eine Vielzahl von Königen ihren eigenen Hof unterhielt und die Entwicklung der Regionen förderte, zeichnet sich Frankreich durch die Stärkung von Paris als Entscheidungszentrum aus. König Franz I. setzte das Französische des Nordens gegen Latein und die lokalen Dialekte als Amtssprache durch. Kardinal Richelieu verstärkte die Bedeutung der zentralisierten kulturellen Einrichtungen, etwa der Universität Sorbonne, gründete die Comédie française, das prestigereichste Theater, und die Sprachpflegeinstitution Académie française.
Ludwig XIV. (1638-1715) baute den Zentralismus weiter aus: In Versailles scharte er den Hochadel um sich, der sich nur selten in seinen Lehnsgütern aufhielt. Die Französische Revolution, die den Aufstand der Regionen gegen die neue Ordnung fürchtete, teilte die alten Provinzen in Départements auf. Aus diesem Grund hat Frankreich heute kaum Großstädte mit mehr als 500.000 Einwohnern. Nur Lyon und Marseille überschreiten die Millionengrenze, können es aber kaum mit der Metropolregion Île-de-France aufnehmen, die mit ihren 12 Millionen Einwohnern 20 % des französischen BIP erwirtschaftet. Napoleon stärkte diese Organisation noch mit der Einsetzung von Präfekten, also nicht gewählten staatlichen Vertretern, die die Exekutivgewalt in den Départements ausüben. Dies erklärt die „sternförmigen“ Eisenbahnnetze, wogegen der Verkehr in Deutschland auf mehrere Zentren verteilt ist. Und es ist außerdem der Grund, warum die Medien nicht „überregional“, sondern national sind. Keine wichtige Zeitung hat ihren Sitz in der Provinz. Die Lokalpresse spielt in der öffentlichen Debatte nur eine marginale Rolle.
Der Prozess der „Dezentralisierung“, mit dem ein Gegengewicht zu Paris geschaffen werden sollte, setzte erst in den 1980er-Jahren ein und kam nur zaghaft voran. Mittlerweile werden die Vertreter der Départements, der Regionen und der Kommunen von den Bürgern gewählt. Der Staat versucht heute, die Entscheidungsmacht der Großstädte, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht, zu stärken.
Im 17. Jahrhundert entstanden in Frankreich unter dem Einfluss von Jean-Baptiste Colbert, dem Finanzminister von Ludwig XIV., die großen königlichen Manufakturen, die in Sparten organisiert waren: Waffen in Saint-Etienne, Tabak in Morlaix, Porzellan in Sèvres, die Spiegelmanufaktur in Saint-Gobain, Wandteppiche in Aubusson oder Les Gobelins etc. Sie stellten die industrielle Basis des Landes dar. In dieser Zeit entstand die Tradition der Einflussnahme des Staats auf die Wirtschaft – ein grundlegender Unterschied zu Deutschland. Colbert, der die Theorie des Colbertismus prägte, war der Ansicht, der Staat müsse bei der Entwicklung der Wirtschaft eine treibende Kraft sein. Diese Theorie sollte die französische Wirtschaftskultur nachhaltig beeinflussen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der wirtschaftliche Wiederaufbau des Landes durch die Verstaatlichung der wichtigsten Wirtschaftssektoren bewerkstelligt, um „nationale Spitzenbranchen“ zu schaffen, die erst sehr viel später wieder privatisiert werden sollten. Aber der französische Staat ist nach wie vor ein Großaktionär der Privatwirtschaft: Er hält an 70 französischen Unternehmen immer noch Beteiligungen im Wert von 110 Milliarden Euro. Er kann auch aktiv eingreifen, etwa bei Renault, Peugeot-Citroën, Engie (vormals GDF-Suez), Air France-KLM, indem er Aktien kauft oder wieder verkauft, um den Kurs eines Unternehmens zu beeinflussen.
Die Bevölkerung hält diese Eingriffe des Staats in die Wirtschaft für völlig legitim. Dies ist auch der Grund, warum zwischen den großen Unternehmen und den höchsten staatlichen Stellen in Frankreich so viel Nähe und Durchlässigkeit bestehen. Eine Eliteschule wie dieÉcole polytechnique bringt ebenso viele künftige hohe Beamte wie Ingenieure für Total oder BNP Paribas hervor. Es ist in Frankreich sehr leicht, vom privaten in den öffentlichen Sektor zu wechseln. In Frankreich ist das Vertrauen in den Staat ebenso groß wie das in die Unternehmen. Dies erklärt auch, warum eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst so positiv gesehen wird: Der Staat als Arbeitgeber erfüllt seine sozialen Aufgaben. All dies hat zur Folge, dass der Anteil der öffentlichen Ausgaben am BIP sehr hoch ist: im Jahr 2010 57 % gegenüber unter 45 % in Deutschland.
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